Begrüssungsrede zur Jugendsession 2025
Bern, 08.11.2025 — -
Geschätzte Teilnehmende der Jugendsession
Chers participants et participantes à la Session des jeunes,
Care e cari partecipanti alla Sessione dei giovani
Es ist mir eine grosse Freude, euch heute hier im Bundeshaus begrüssen zu dürfen. Genau an diesem Ort – im Nationalratssaal – habe ich vor fast zwei Jahren meinen Amtseid als Bundeskanzler abgelegt und auf die Bundesverfassung geschworen. Ich sagte damals: „Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.» Dieser Moment, Hand aufs Herz und drei Finger zum Schwur erhoben, war einer der bewegendsten meines Lebens.
Bevor ich den Eid leistete, habe ich in meiner Antrittsrede vor der Bundesversammlung von meiner Herkunft erzählt. Ich möchte euch heute diese Geschichte auch erzählen. Sie hat viel mit dem Motto der Jugendsession zu tun: «Ich schwöre».
Meine Eltern kamen in den 1950er-Jahren aus zwei Ländern in die Schweiz, die noch wenige Jahre zuvor im 2. Weltkrieg unter faschistischen Regimes gelitten hatten. Mein Vater stammte aus Süditalien – aus Napoli – und meine Mutter aus Südkärnten in Österreich. Sie verliessen ihre Heimatländer, die nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise noch in Trümmern lagen und wo eine freiheitliche Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kannten und kennen, erst langsam am Entstehen war. Viele Jahre später, im Dezember 2023, stand ich dann hier an diesem Pult und sagte: «Dieses für meine Eltern damals fremde Land wurde rasch zu unserem Land, zu unserer Schweiz. Ich kann daher fast nicht in Worte fassen, was es für mich bedeutet, jetzt hier stehen zu dürfen.» Dieses Land, diese Schweiz, hat meinen Eltern die Chance auf eine neue Zukunft geboten – eine «heile» Schweiz inmitten eines Europas, das sich erst von Krieg und Diktatur erholte. Dafür bin ich und meine Familie unendlich dankbar.
Liebe Jugendliche: Demokratie ist nicht einfach «gottgegeben». Nichts an unserem politischen System fällt uns vom Himmel in den Schoss. Die Schweiz ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis harter Arbeit, Mut und der Verpflichtung vieler Generationen. Es beginnt bei unseren sagenumwobenen Ursprüngen: Die Schweiz nennt sich Eidgenossenschaft – ein Bund, der auf einem Eid gründet. Der Rütlischwur – ob historisch genauso oder anders – symbolisiert bis heute, dass Freiheit und Demokratie das Ergebnis bewusster Entscheidungen und Versprechen sind. Unsere Vorfahren schworen, für ihre Freiheit einzustehen. Und auch wir müssen uns immer wieder neu mit unseren demokratischen Werten beschäftigen und zu ihnen stehen. Ihr würdet vielleicht sagen: zu ihnen «commiten».
La démocratie doit mûrir continuellement, elle doit être vécue et défendue en permanence. En Suisse, notre ordre démocratique est stable depuis de longues années, mais nous ne perdons pas de vue que nous devons protéger nos institutions. Je vois plusieurs évolutions qui nous mettent au défi.
· La société est de plus en plus polarisée : les différents groupes qui la composent parlent davantage les uns des autres que les uns avec les autres, et le plus souvent sans se ménager.
· Ensuite, il y a la désinformation sur les réseaux sociaux, où il devient toujours plus difficile de distinguer le vrai du faux, la réalité de la fiction. On cherche à nous manipuler pour attiser la haine et la violence.
· Il faut aussi évoquer le fait que beaucoup de jeunes, mais aussi de nombreux adultes, se détournent de la politique. La politique, à première vue, c'est un peu comme la neurorobotique, la biophysique ou la littérature classique : on peut s'y intéresser... ou non. Mais à y regarder de plus près, la politique c'est autre chose : elle touche à la manière dont nous nous organisons en tant que communauté, dans notre pays comme dans le monde : il s'agit de définir comment nous voulons vivre ensemble. La politique, c'est établir en commun les règles auxquelles nous devons tous obéir, mais c'est aussi créer les espaces de liberté que nous souhaitons avoir. Si nous ne parlons plus les uns avec les autres, si nous ne faisons plus confiance à notre gouvernement, à notre parlement et à nos tribunaux, c'est toute notre démocratie qui vacille. Or, nous savons dialoguer et nous pouvons compter sur nos institutions. Le Conseil fédéral et moi-même travaillons d'arrache-pied à promouvoir les échanges et la confiance dans notre système. Une démocratie ne peut fonctionner que si nous la faisons vivre tous ensemble.
Darum mein Appell an uns alle: Pflegen wir unsere Demokratie wie einen Garten. Reissen wir Unkraut wie Fanatismus und Fake News aus und säen wir die Samen von Respekt, Fakten und Kompromissfähigkeit. Wir müssen unserem System Sorge tragen, jeden Tag aufs Neue. Und ihr, liebe Jugendliche und junge Erwachsene, zeigt heute eindrucksvoll, wie das geht: indem ihr euch informiert, debattiert, einmischt.
1974 erhielt meine Familie das Schweizer Bürgerrecht, doch in meiner Kindheit waren ich und viele meiner Freunde für viele einfach «die Italiener» oder wenig respektvoll «die Tschinggen». Das tat weh und liess mich manchmal zweifeln, ob ich je vollständig zu dieser Gesellschaft in diesem Land gehören würde. Aber unsere Schweiz hat mir – so wie vielen anderen – gezeigt, dass man gesellschaftlich, beruflich und politisch sehr viel erreichen kann, auch mit einem Hintergrund wie meinem. Wer hätte damals gedacht, dass ich eines Tages als Bundeskanzler hier zu euch sprechen werde? Dieses Land hat es möglich gemacht.
Allerdings ging das nicht von selbst. Integration ist kein Selbstläufer – sie braucht Einsatz von beiden Seiten. Meine Eltern haben viel dafür getan, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Sie haben die Sprache gelernt und fleissig gearbeitet. Auf der anderen Seite hat die Schweiz uns Chancen geboten: gute Schulen, doch auch offene Arme – und letztlich das Bürgerrecht. Dieses gegenseitige Entgegenkommen ist entscheidend.
Ich denke hier an die vielen Bereicherungen durch verschiedene Kulturen: Zum Beispiel die Italiener und ihre Gastronomie – niemand von uns möchte heute Pizza, Pasta oder Gelato missen! Oder Börek, «Fish and Chips» und Falafel. Was in meiner Kinderzeit als fremd beäugt wurde, ist längst Teil unserer gemeinsamen Identität geworden. So wird aus Vielfalt ein Gewinn für alle. Meine eigene Karriere wäre ohne Klima der Offenheit unmöglich gewesen. Darum lasst uns weiterhin Brücken bauen statt Gräben ziehen. Jede junge Person in diesem Land, ob mit Schweizer Grosseltern oder mit Wurzeln in Napoli oder in Pristina, soll sagen können: «Das hier ist unsere Schweiz, und ich kann hier alles erreichen!»
Kommen wir damit zum Motto dieser Jugendsession: «Ich schwöre». Ich muss schmunzeln: Wenn ich heute Jugendlichen zuhöre – sei es bei meinen Töchtern, auf der Strasse, im Internet oder in TikTok-Videos – scheint «Ich schwöre!» in jeder zweiten Aussage vorzukommen. Oft wird es gebraucht, um zu beteuern, wie mega toll oder schlimm etwas war, oder einfach als Füllwort, wenn man etwas Nachdruck verleihen will. «Diese Pizza ist die beste, ich schwöre!» – ihr kennt das alle.
Ma come potete immaginare, in politica e per lo Stato la parola «giurare» ha un peso molto maggiore. Un giuramento, un voto solenne, è una promessa solenne, un impegno. Quando ho giurato in questa sala, non ho semplicemente usato una parola vuota, ma mi sono assunto la piena responsabilità di qualcosa, di rispettare la Costituzione e le leggi e di adempiere i miei doveri d’ufficio. Lo stesso vale per tutti voi qui presenti che vi adoperate nella Sessione dei giovani. Il vostro «giuro» deve essere più di una parola vuota e colloquiale. Deve essere un impegno, l’espressione della vostra determinazione a difendere le vostre aspirazioni.
Naturalmente, impegno in democrazia non significa che le vostre richieste abbiano sempre automaticamente la meglio. In politica, diversi interessi sono in competizione tra loro. Ho una mia opinione e accetto quella degli altri, anche se non la condivido. È proprio questo che caratterizza il dibattito politico: scontro e compromesso, competizione di idee e ricerca della strada migliore per la nostra società. Dovremmo essere sempre pronti ad accettare altri punti di vista e a valutare ciò che più giova al bene comune.
Ich finde es grossartig, dass ihr heute hier zusammenkommt, um mit Leidenschaft und Offenheit zu debattieren. Ihr zeigt damit, was es heisst, sich ernsthaft einer Sache zu verschreiben. Ihr diskutiert Themen, die uns alle betreffen – von der Neutralität der Schweiz über den digitalen Raum bis zur Bildungspolitik und Chancengleichheit. Die Jugendsession gibt euch eine starke Stimme in der Politik: Ihr könnt hier mitreden, Forderungen formulieren und echte politische Prozesse mitgestalten. Dabei erlebt ihr Politik hautnah und sammelt wertvolle Erfahrungen für euer weiteres Leben. Ihr übernehmt Verantwortung für euch und die Gesellschaft und lernt, konstruktiv und selbstbewusst mitzubestimmen. Genau das braucht unsere Demokratie!
Macht weiter so – und steckt auch euer Umfeld damit an. Überlassen wir die Politik nicht nur den Alten! Ich sage das bewusst so salopp. Immerhin zähle ich aus eurer Perspektive bestimmt schon zu den «Alten» – mit meinen 57 Jahren – ich schwöre! Im Ernst: Unsere Gesellschaft befindet sich in ständigem Wandel, und eure Generation – die Generation der Digital Natives, der neuen Ideen – muss ihre Energie und ihren Innovationsgeist einbringen. Es ist eure Zukunft, um die es geht. Wenn ihr euch nicht einmischt, tun es andere für euch.
Il en va de votre avenir. Si vous ne le prenez pas en main, d'autres le feront à votre place. C'est pourquoi je me réjouis de la présence et de la participation de chacune et de chacun d'entre vous. Vous servez d'exemple aux autres jeunes du pays. Vous leur montrez que la politique peut être passionnante, qu'il vaut la peine de faire entendre sa voix et que notre démocratie peut compter sur notre jeunesse pour s'épanouir.
E vorrei concludere con un ringraziamento: grazie a voi e a tutti coloro che rendono possibile questa Sessione dei giovani. Vi ringrazio, cari e care partecipanti, per il vostro magnifico impegno. Durante quattro giorni a Berna, dedicate il vostro tempo libero alla riflessione, alla discussione, all’ascolto e alla progettualità. La vostra passione e il vostro impegno mi impressionano. Voi non siete solo il futuro, ma già il presente della nostra democrazia.
Ich wünsche euch noch eine erfolgreiche Jugendsession 2025. Macht weiter so
– die Zukunft gehört euch!
– l’avenir vous appartient !
– il futuro vi appartiene!
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.